Hot Button und kühle Kalkulation
TV-Gewinnspiele haben sich zur TV-Gewinnmaschine entwickelt. Doch Kritiker warnen vor dubiosen Praktiken und fordern strengere Regelungen. Die Landesmedienanstalten können derzeit allenfalls Beanstandungen aussprechen. Mit dem neuen Rundfunkänderungsstaatsvertrag soll sich das ändern.
Wir machen ja eigentlich gar kein Fernsehen mehr?, sagte die Gründerin und Chefin des ?ersten deutschen Mitmach-Senders?, Christiane zu Salm, früher gerne. Als sie im Sommer 2001 das Konzept des neuen TV-Programms 9Live vorstellte, herrschte in der deutschen Medienlandschaft Skepsis. Doch das änderte sich rasch. Schon ein Jahr später nämlich verbuchten die Gesellschafter der Euvia Media AG erstmals einen Gewinn. Was folgte, war der beispiellose Aufstieg des ?Nicht-Fernsehens?: Der Umsatz von 9Live stieg in den vergangenen vier Jahren von etwa sechzig Millionen auf knapp 96 Millionen Euro. Die Rendite lag in den vergangenen Jahren bei etwa dreißig Prozent.
Das Geschäftsmodell des so genannten Call-in-TV ist denkbar einfach: Im Studio stehen Moderatoren vor Ratewänden und fordern das Publikum auf, sich an der Lösung mehr oder weniger einfacher Rätsel zu beteiligen. Wurde anfangs auch schon mal danach gefragt, wo der schiefe Turm von Pisa steht, geht es heute oft darum, Automarken mit dem Buchstaben A oder O zu finden.
Wer mitmachen will, kann einfach eine bestimmte Telefonnummer anrufen und darauf hoffen, dass sein Telefonat ins Studio zum Moderator durchgestellt wird. Jeder Anruf kostet fünfzig Cent, aber nur ein Bruchteil der Versuche hat eine Gewinnchance. Das Geschäftsmodell wurde kühl kalkuliert: Etwa die Hälfte der Telefongebühren landet bei den Call-in-TV-Sendern, der Rest bei Telekommunikationsunternehmen. Bis zu zwanzig Millionen Mal soll es bei 9Live pro Monat erst am Telefon und dann in der Kasse klingeln. Die Wahrscheinlichkeit auf eine Gewinnchance liegt beim Verhältnis von 1:2.500. Darüber, wann wer mit den Studio-Animateuren verbunden wird, soll das Zufallsprinzip entscheiden.
Mitmach-Masche auf vielen Kanälen
Christiane zu Salm, die ehemalige Gründungsgeschäftsführerin von 9Live, verkaufte ihre Anteile an der Euvia AG 2005 an die ProSiebenSat.1 Media AG, die inzwischen hundert Prozent der Gesellschafteranteile besitzt. Auf diese Weise will die Senderfamilie unabhängiger von Werbeeinnahmen werden. 9Live produziert mittlerweile auch Call-TV-Programmfenster mit Gewinnspielen in der Türkei, in Spanien, Kroatien und im arabischen Raum. In Deutschland setzen längst auch Programmmacher anderer TV-Kanäle auf die Mitmach-Masche: Ähnliche Sendungen wie die von 9Live tauchen in den Programmen von ProSieben, Sat.1, Kabel 1, Tele 5, Super RTL, DSF, Viva, Nick und Comedy Central auf. Doch der ganz große Boom scheint vorbei. Nach Recherchen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel sammelt die gesamte Branche mit 20 bis 25 Millionen kostenpflichtigen Anrufen monatlich inzwischen so viele Telefongebühren ein wie 9Live vor zwei Jahren noch alleine verbuchen konnte.
390 Millionen Euro Umsatz sollen deutsche Rundfunk-Programmanbieter durch Call-TV-Shows und -Sendungen generieren (inklusive Beratungsformate etc.), errechnete das Marktforschungsinstitut Goldmedia. Jetzt aber stagniert das Geschäft mit dem ?Transaktionsfernsehen?, bei dem die Zuschauer via Telefon live ins TV-Geschehen eingreifen und Geld gewinnen können. Offensichtlich fühlen sich immer mehr Zuschauer übervorteilt.
Richtlinien für TV-Gewinnspiele
Die Masche, Zuschauer aufzufordern, sie müssten sich mit ihrem Anruf beeilen, verfängt immer seltener. Und der Trick mit dem so genannten Hot Button, der darüber entscheidet, wann wer den Zuschlag erhält, ist in Verruf geraten. So musste 9Live zugeben, dass der Zeitpunkt, an dem Alarmsignal und Rotlicht signalisieren, dass jetzt ein Telefonat ins Studio durchgestellt wird, nicht allein vom Zufall abhängt. Vielmehr kann die Redaktion auch erreichen, dass stundenlang kein Anrufer Erfolg hat. Wenn dies der Fall ist, suggerieren Moderatoren oft, dass es sich angesichts der langen Zeit ohne einen Zuschlag nur um Sekunden handeln könne, bis wieder ein Zuschauer eine Gewinnchance erhält. Auf diese Weise wird unterschwellig beim Publikum Zeitdruck aufgebaut.
Bei den Landesmedienanstalten sind wegen solcher Methoden in den vergangenen Jahren immer wieder Beschwerden eingegangen. Deshalb haben die Aufsichtsbehörden bereits vor etwa zwei Jahren eigene ?Anwendungs- und Auslegungsregeln für die Aufsicht über Fernseh-Gewinnspiele? entwickelt. Seitdem müssen die Spielregeln besser erläutert werden, Aussagen zur potenziellen Gewinnsumme präzisiert und die Rätselergebnisse zeitnah und nachvollziehbar präsentiert werden. Da im Rundfunkstaatsvertrag bindende Regelungen für den Bereich der Gewinnspiele fehlen, handelt es sich um ein freiwilliges Übereinkommen mit den Anbietern. Die Richtlinien sollen irreführende Spielregeln ebenso vermeiden wie den Ausschluss von Teilnehmern. Im vergangenen Juni hat die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) das Regelwerk noch einmal überarbeitet. ?Zentrale Punkte sind dabei der Abbau von künstlichem Zeitdruck durch die Moderation, die Offenlegung der technischen Mechanismen, eine Dokumentation der ausgezahlten Gewinne und klare Referenzen bei Wortsuchspielen?, heißt es in einer DLM-Pressemitteilung.
Kritiker gründete Online-Forum
?Achten Sie auf Ihr Telefonverhalten?, warnen einige Anbieter der Mitmach-Formate ihre Zuschauer inzwischen durch ein Insert am Bildrand. Trotz der Richtlinie aber kommt es noch immer zu Fällen, in denen Zuschauern suggeriert wird, die Lösung sei leicht und sie müssten nur schnell und notfalls mehrfach anrufen, weil der ?Hot Button jederzeit zuschlagen? könne. Tatsächlich aber dauert es dann manchmal mehr als eine Stunde, bis wieder ein Anruf ins Studio durchgestellt wird. So forderte die Moderatorin und Ex-?Big-Brother?-Teilnehmerin Alida Lauenstein unlängst ihre Regie offenbar dazu auf, noch länger zu warten, bis wieder ein Mitspieler eine Gewinnchance erhalte. Was sie nicht wusste: Die Zuschauer konnten diese Absprache mit der Redaktion mithören.
Solche und ähnliche Vorfälle werden inzwischen auf einer speziellen Internetseite dokumentiert: Mit
www.citv.nl hat der Berliner Marc Doehlers Anfang 2006 ein Online-Forum geschaffen, das Tricks und Kniffe, Täuschungen und Fehler der TV-Rateshows protokolliert. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung urteilte, während der Quiz-Shows von 9Live falle ?kaum ein Satz, der nicht dazu dient, die Zuschauer über Chancen und Kosten, Risiken und Spielregeln in die Irre zu führen". Ein beliebter Trick ist es zum Beispiel, beim Publikum den Eindruck zu erwecken, die Gewinnchance sei groß, weil keiner die Lösung wisse. Schließlich habe schon lange niemand mehr im Studio angerufen. In Wirklichkeit aber klingelt das Telefon bei 9Live meist pausenlos. Allerdings wird den Anrufern dann gesagt, sie hätten leider Pech und könnten nicht mit dem Moderator verbunden werden.
Gefährlicher Suchtfaktor
Für einige Zuschauer ist das Rätselraten am Bildschirm bereits zur Sucht geworden: Spielsüchtige beichten den TV-Animateuren via Telefon live, sie hätten innerhalb des vergangenen Monats mehrere tausend Euro fürs Call-TV ausgegeben. Allmählich aber scheinen die ?Ruft-uns-an?-Appelle von 9Live und Co. an Wirkung zu verlieren. Bei einer Umfrage der TNS Forschung im Auftrag des Spiegel gaben im August drei Viertel der Befragten, die schon einmal an Ratesendungen teilgenommen hatten, an, dies nicht wiederholen zu wollen. 9Live hat bereits damit begonnen, außer Quiz-Runden auch herkömmliche Fernsehware auszustrahlen. Gezeigt werden sollen vor allem Free-TV-Formate für Frauen, die älter sind als dreißig Jahre.
Weil die Call-in-Einnahmen nicht mehr so üppig fließen wie früher, reagieren die Moderatoren in den Live-Sendungen auf Kritik zuweilen äußerst gereizt. Das Internetforum
www.citv.nl wurde von der Firma Callactive gerichtlich gezwungen, nicht mehr zu behaupten, dass ?Scheinanrufer? oder ?verwirrte Anrufer? Sendungen unnötig in die Länge zögen, um so Zuschauer zu weiteren Telefonaten zu animieren. Callactive ist eine Tochtergesellschaft des TV-Konzerns Endemol und produziert täglich drei Stunden Rateprogramm (?Money Express?) für die Viacom-Programme Viva, Nick und Comedy Central.
Neue Regelungen gefordert
Passagen, die eine Irreführung von Zuschauern in Fernsehprogrammen untersagen, beziehen sich im Rundfunkstaatsvertrag nur auf die Werbung, nicht aber auf Gewinnspiele. Die Landesmedienanstalten verfügen bislang nur über das Instrumentarium von Beanstandungen, können aber keinerlei Sanktionen ergreifen, um gegebenenfalls dubiose Praktiken der Gewinnspiel-Branche im Fernsehen zu ahnden.
?Aufsichtsmaßnahmen gegen unlautere Gewinnspiele im Fernsehen erfordern eine klare rechtliche Grundlage, die DLM wird hierzu einen Vorschlag unterbreiten?, erklärte der DLM-Vorsitzende Reinhold Albert und forderte konkrete Regeln, die im 10. Rundfunkänderungsstaatsvertrag verankert werden sollen. Marc Doehlers und seine Mitstreiter wünschen sich so ein Paragrafenwerk schon lange. In Großbritannien existieren solche Sanktionsmöglichkeiten. So hat die Medienaufsichtsbehörde Ofcom dort im September gegen den Programmanbieter GMTV eine Rekordstrafe in Höhe von zwei Millionen Pfund verhängt, nachdem Zuschauer systematisch in die Irre geführt worden waren. Bereits im Sommer hatte GMTV eine Strafe von 250.000 Pfund zahlen müssen, nachdem die Telefon-Aufsichtsbehörde festgestellt hatte, dass 18 Millionen Zuschauer bei einem Telefonspiel betrogen worden waren.
Auch in den Niederlanden wird gegen mehrere TV-Programmanbieter ermittelt. In der Schweiz sind telefonische Gewinnspiele generell verboten. Und der Europäische Gerichtshof muss demnächst in der Rechtssache C-195/06 darüber entscheiden, ob die fürs Publikum teuren Mitmach-Shows nicht im Grunde als Teleshopping einzuschätzen sind. Dann wäre es mit der Rund-um-die-Uhr-Raterei vorbei, weil Teleshopping bei normalen Fernsehprogrammen auf drei Stunden täglich begrenzt ist.
Dr. Matthias Kurp
Quelle: medienforum.nrw.de